Dienstag, 10. Juli 2012

Jugend 1949 - eine erfundene Geschichte, aber möglich



Des jungen Gymnasiasten Rudolf's

 Leben mit den Mädchen

und dann als Schlosserei-

Praktikant

 

Dieses  ist der erste Teil, 
die Fortsetzung folgt im zweiten Post, 

-   siehe rechts und klick auf "Fortsetzung"                                                    

 

(Rollia ist Rudolf´s Spitzname bei den Mädchen).

von Aryaman Stefan, fertig 16.Juni, ergänzt am 10.Juli 2012

(am Ende des zweiten Blogs findet Ihr 

eine Liste der genannten Personen)



Prolog
Dieses soll eine Jugend-Geschichte werden, erfunden von Aryaman, geschrieben ab März 2003. Diese Geschichte ist also fiktiv. So eindrucksvoll wie in den beiden erfundenen Internaten Waldfels und Hochfels habe ich das Leben im Hermann-Lietz-Internat Bieberstein nicht erfahren, es war auch gut aber nicht so voll. Und im Lietz-Mädchen-Internat Hohenwerda war ich nur einmal für eine Stunde. In dieser Geschichte hier will ich eine Idee der Erziehung zu schönen, friedvollen und liebevollen Menschen versuchen — wobei ich eigentlich von “Erziehung” sehr wenig halte sondern eher davon, den Kindern (wie Hermann Lietz alle seine Schüler nannte) die Freiheit und Gelegenheiten zu bieten, sich voll nach den eigenen Fähigkeiten zu entwickeln, sie darin nicht zu behindern. Meine Geschichte ist ein Ideal, eine Idee.

Wie seit langem gesagt wird, hat es in der Kulturgeschichte der Menschheit die Aufeinanderfolgen von Matriarchat und Patriarchat gegeben. JEAN GEBSER hat darüber geforscht und geschrieben. Er lässt die Folgen weiterlaufen in ein Integrat. Nun höre ich immer mehr, wie Kinder und Jugendliche die Kultur bestimmen. Wie jemand gesagt hat, entsteht ein Paidarchat (pais = Kind im Altgriechischen). Meine Geschichten werden immer mehr von der Beobachtung des Paidarchat´s bestimmt, merke ich nun, obwohl mir das früher nie bewußt war.

Ich glaube, daß die Geschichte vom jugendlichen Rudolf stark von buddhistischen Vorstellungen geprägt ist, vielleicht von der buddhistischen Psychologie und Pädagogik. In vielem entspricht sie nicht den üblichen Lebens-, Erziehungs- und Denkmustern im Westen, auch nicht in den Hermann-Lietz-Internaten. Sie spielt um 1949 in Westdeutschland. Sie ist ein Ideal.

Im ersten Teil dreht sich vieles um Cross dressing (CD) eines fast 13-jährigen Jungen, das heißt, er geht für ein halbes Jahr als Mädchen zu Mädchen in das Mädchen-Internat und kleidet sich entsprechend — auf Anregung der Schulleitung des Knaben-Internats, in dem er meistens lebt —, um seine Erfahrungen zu erweitern. Damals waren die Unterschiede der Kleidung zwischen Mädchen und Jungen viel größer als heute (2004), wie ich dies schreibe. Insofern ist es auch eine historische Erinnerung.

Dann, ein Jahr später geht dieser Junge für drei Monate als Praktikant in eine Schlosserei und erlebt das krasse Gegenteil des vorigen Experiments. Doch er bewahrt sich seine sehr eigenen Erfahrungen aus der Zeit als Mädchen.

Wie ich diese Geschichte entwerfe bin ich 71 und schon elf Jahre lang Rentner. Geleitet wird meine Geschichte von meiner Liebe zu Menschen, besonders von meiner Liebe zu Frauen, denen ich als Mann, der ich bin, schon immer nahe sein will. Meine Freundin Hannah sagte neulich zu mir, “nun wirst du aber richtig zum Mädchen,” als ich einen Unterrock mit gehäkeltem Rand unter meinen bunten Rock ziehen wollte. Dieser Spruch hat mich sehr berührt, denn recht hat sie: den Frauen und Mädchen fühle ich mich sehr nahe und kleide mich schon lange nur in bunte Röcke — eine Hommage ans Weibliche? So zu sein macht mir viel Spaß.

Doch meine Geschichte ist auch geleitet von vielen Ideen des geistigen Wachsens von uns Menschen überhaupt. In jedem einzelnen Menschen sind sowohl die Frau als auch der Mann in fast gleichem Ausmaß vertreten, und es sind eher die gesellschaftlichen Umstände, die einen so oder so aussehen, handeln und sich fühlen lassen.
Von Frauen habe ich immer wieder gehört, daß es für eine Frau schöner ist, die Frau im männlichen Mann zu finden und zu erleben als dem Nur-Mann allein zu begegnen. Den Weg zur Frau im Mann — im eigenen Mann — findet Rolli, der Held der Geschichte, dabei sind die  Mädchen eine wichtige Kraft.

 Die Vorbereitungen im Schloss Waldfels
Immer mehr Stimmen nehmen teil an den Nachtischs-Gesprächen im Speisesaal — das ist der alte Rittersaal. Helle Kleinkinderstimmen, Jungenstimmen der Zehn- bis Sechszehnjährigen, Frauen-, Jünglings- und Männerstimmen — verworren klingt es für mich immer noch.

Das Essen fand ich nicht besonders, es bestand einfach aus Salzbohnen mit Kartoffeln, eine kleine Frikadelle, dazu eine Fettsoße. Und hinterher bekamen wir einen weiß-gelben Pudding mit zäher roter Fruchttunke, und dann konnten wir uns noch einen Apfel nehmen. Na ja, das Leben ist recht einfach hier im Jungen-Internat “Waldfels”. Noch kein halbes Jahr bin ich hier, endlich habe ich die Familie mit den vielen kleineren Geschwistern hinter mich lassen können. Hier kann ich allein sein, wenn es auch eine Menge von Pflichten gibt, die jeden in Anspruch nehmen. Und hier gibt es das Lernen in den wissenschaftlichen, handwerklichen und sportlichen Fächern, besonders die Handwerke ziehen mich an.

Obwohl eine Schule mit 75 Schülern, 15 Lehrern und ihren Familien und noch weiteren Hausangestellten eine strenge Ordnung braucht: für mich ist es leichter und schlichter hier als in meiner Familie zuhause, später würde ich sagen: es war etwas mönchisch auf Waldfels.

Eine kleine Glocke, der Heimleiter steht auf und es wird ruhig. Er sagt ein paar lobende Worte über das Essen — wie immer —, wünscht uns einen schönen Nachmittag und hält uns an den Stühlen fest mit den Worten, “heute ist noch etwas zu sagen, ich bitte alle Jungen und Erzieher noch hier zu bleiben.” Stühlerücken der fortgehenden Familien und anderen, die sich nicht angesprochen fühlen.

“Aus der Stadt habe ich eine Bemerkung zugetragen bekommen, ja ich möchte sagen, eine Beschwerde, die hier weiterzugeben ist. Am letzten Wochenende haben sich ein paar Jungen von uns, aus den älteren Klassen, nicht so benommen, wie es sich gehört. Einige Frauen und Mädchen, besonders Mädchen, fühlten sich belästigt und ungehörig und frech angesprochen, ja — wie sie sagten — angepöbelt. Das war abends nach dem Kinofilm. Hier soll nicht gesagt werden, um wen es sich dabei handelt, wer mit mir noch darüber sprechen will: nachher um drei Uhr habe ich eine Stunde dafür eingeräumt. Kommt bitte.

“In den nächsten Minuten will ich aber zu euch erst etwas zur Stimmung zwischen Männern und Frauen sagen, und dann will die Lehrerkonferenz einen erzieherischen Lösungsvorschlag machen.

“Drei Jahre ist es erst her, daß dieser schreckliche und grausame Krieg vorüber ist — in den Köpfen wütet er noch nach, und das wird noch sehr lange so bleiben. Unsere Schule hat es sich aber zur Aufgabe gestellt, an der Befriedung mitzuarbeiten. Alle seid ihr davon betroffen worden. Habt flüchten müssen, habt Verwandte und Freunde verloren, vielen ist der Vater in Felde geblieben oder verletzt und seelisch zerbrochen zurückgekommen. Manche sind ausgebombt und leben nun schon seit Jahren in sehr engen und provisorischen Verhältnissen. Einige ältere Schüler sind bei uns, die selbst als Soldat im Krieg waren und nun die Gelegenheit gefunden haben, das Abitur nachzuholen. Schwere Zeiten habt ihr erlebt. Und fast allen Menschen in Europa erging es so.”

Er macht eine Pause, und wie er die vielen betretenen Jungen ansieht — aber es sind auch einige wütend oder beklommen —, da kommen ihm Tränen, er kann eine Weile nicht sprechen.

“Unfrieden herrscht nun zwischen Frauen und Männern, Mädchen und Jungen, Älteren und Jüngeren, zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten und Völkern. Fast jeder Mensch hat seelische Schäden behalten, die nur schwer zu heilen sind, die meisten wohl nie — auch wenn wir uns schon daran gewöhnt haben, scheinbar.”

Es ist im Herbst 1948 in einem Oberschul-Internat im Hessischen. Die Schule liegt in einem großen Wald und ist in einer alten und vor Jahren renovierten Burg auf einem Berg untergebracht. Von der Burg aus sehen wir ein paar Dörfer in den umliegenden Tälern, und zur Stadt fährt eine Kleinbahn in dreißig Minuten. Ich bin nun schon fast 13. Der Umzug von zuhause hierher hat mich erschreckt und viel in mir bewegt, doch nun bin ich sehr froh, hier zu sein. Ich bin nicht mehr in dem Maße Kind wie vorher. Hier will ich schließlich das Abitur machen und bis dahin die reichen Gelegenheiten nutzen, die die Lehrer und Mitschüler, das Land und die große Bibliothek mir bieten, bin begierig nach all den neuen Erfahrungen. Bin voller Lust, zu wachsen — in jeder Hinsicht. Ist das außergewöhnlich?

Der Heimleiter heißt Herr Kunze, aber er lässt sich von Freunden auch mit Bante anreden. Nach einer Pause spricht er weiter:

“Ich selbst hatte das große Glück, während des ganzen Krieges weit weg im Ausland zu sein. Es gab keinen Grund meinen Ort dort zu verlassen, um hierher zu eilen und — wie es hieß — in der Not dem Vaterland beizustehen. Ich sah keine Wirkungsmöglichkeiten.

“Doch nach dem Krieg kam schnell ein Brief von der Schulleitung, die mich rief um die Heimleitung zu übernehmen, das Schulleben wieder in Gang zu bringen und für neue Lehrinhalte offen zu sein. Man suchte jemanden, der nicht von den Kriegswirren geschädigt war.”

Dieser Mann hat eine Ruhe, die ich bewundere. Noch nicht lange kenne ich ihn, und meistens nur aus der Ferne, hatte fast keine persönliche Begegnung, und schon war er für mich wie ein Vater, nein, wie ein angebeteter Meister, einer, der alles für mich sagen und tun kann. Ich bin ihm ganz hingegeben und voller Liebe zu ihm, die ich selbst nicht verstehe.

“Die Lehrerkonferenz hat einen ungewöhnlichen Vorschlag von mir aufgegriffen und weiter ausgefeilt, und Herr Mirkin wird das nun vorstellen, was wir uns ausgedacht haben.” Lächelnd setzt sich Herr Kunze und löffelt noch an seinem Pudding. Herr Mirkin steht nun auf. Er hat ein wetterbraunes Gesicht mit vielen Narben, die wie er uns mal erzählte von den Schlachten des letzten Krieges herstammen.  Jetzt ist Herr Mirkin ein Lehrer für alte Sprachen und Geschichte, steht auf und fährt mit einer Hand etwas aufgeregt an seiner Jacke runter. Es fällt ihm nicht so leicht wie dem Heimleiter, sich räuspernd beginnt er,

“Ich soll vorausschicken, daß wir meistens nicht recht wissen, wie der andere Mensch eigentlich ist, wie er denkt und fühlt. Na ja, das ist nichts Neues. Schwieriger wird es, wenn Männer die Frauen und Frauen die Männer verstehen wollen. Ja eigentlich haben wir Männer wenig Hochachtung vor Frauen, und die Frauen kaum mehr Hochachtung vor Männern.

“Und nun sind in diesem Internat nur Jungen, und es gibt wenig Möglichkeiten mit Mädchen frei und liebevoll zusammen zu kommen, ihre Art kennen und schätzen zu lernen. Es hat seine Bedeutung, daß hier nur Jungen sind und in dem Internat “Hochfels” nur Mädchen, das Leben in der Schule ist ruhiger als wenn sie gemischt wäre. Hier kann jeder Schüler, und in Hochfels jede Schülerin mehr an sich und für sich selbst arbeiten, und es gibt weniger Reibereien und Unverständnisse.

“Dennoch denken wir uns, daß mehr Kontakte nötig wären. Denn das Vorkommnis in der Stadt zeigt uns, daß wir Lehrer eine Aufgabe noch nicht richtig verstanden und erfüllt haben. Das Unverständnis der Jungen für Mädchen und Frauen ist sehr groß.

“Man könnte daran denken, daß die Mädchen und Jungen sich häufiger treffen sollten, aber das wären immer nur Sonntags-Erfahrungen. Es kann nicht zu tieferen Erfahrungen kommen.

“Tiefere Erfahrungen sind aber möglich, wenn einzelne Jungen für eine gewissen Zeit bei den Mädchen leben würden, und einzelne Mädchen bei den Jungen. Also wenn für einige Monate ein paar Hochfels-Mädchen hierher kommen würden und umgekehrt, im Austausch sozusagen. Hochfels und Waldfels gehören ja zusammen, gehören zu demselben Heimschul-Verband.

“Und nun wird´s schwierig, weil es nicht in unsere übliche Denk- und Gefühls-Muster passt, nicht in unsere üblichen Vorstellungen passt. Und die Konferenz hat es sich sehr schwer getan, den Vorschlag von Herrn Kunze zu diskutieren und schließlich anzunehmen. Der Vorschlag lautet: das Mädchen, das hierher kommt, lebt ganz wie einer unserer Jungen, und der Junge, der nach Hochfels geht, lebt ganz wie eines der Mädchen dort. Das soll sehr weit gehen, und es wird auch für euch schwer sein, so etwas überhaupt zu denken.

“Nach langem Überlegen begeistert mich diese Idee. Es soll so weit gehen, daß ein Junge in allem, was möglich ist, als ein Mädchen lebt, und ein Mädchen in allem, was geht, als ein Junge. Also, und das wird für euch das Schwierigste sein, auch in der Kleidung.

“Der Gast in dem anderen Heim wird ein eigenes Zimmer bekommen, das ist fast die einzige Trennung. Sie oder er soll also nicht mit in den Dreier- oder Viererzimmern wohnen. Das ist eigentlich ganz selbstverständlich.

“Was wir wollen, ist: der Junge, der als Mädchen — sozusagen — in die Mädchen-Schule geht, soll ganz tief innen lernen und an sich selbst erfahren, was ein Mädchen, was eine Frau fühlt, was ihr geschieht, wie sie damit umgeht, wo sie Lösungen für typische Probleme finden kann.

“Ja, der Junge soll die typisch weiblichen Probleme und Freuden an sich selbst erfahren und lösen lernen — dabei aber nicht typisch männlich reagieren sondern lernen, während dieser Zeit typisch weiblich damit umzugehen. In allem geht das ja nicht, denn ein Junge kann natürlich nie die Regelblutung bekommen, das ist reine Frauensache, und manches mehr.

“Ihr sollt also lernen, wie ein Mädchen fühlt und dieses Leben erfährt, und wie es damit umgeht. Achtet darauf, nicht immer wieder in die früher bereits gelernten männlichen Lösungsformen zu fallen, seid weiblich, ganz und so weit es euch möglich ist: weiblich.

“Wir erhoffen uns damit, daß Jungen und später Männer mehr Verständnis für Frauen haben, mehr Liebe, nicht mehr diese altbekannte Härte und Intoleranz.”

Herr Mirkin setzt sich, aufatmend. Er sieht aus, als ob er eine schwere Aufgabe gelöst hat. Wir Jungen sind erstmal erschrocken. Ein Gemurmel beginnt, Betroffenheit ist da. Einer sagt, “ich habe nicht gewußt, daß es so schwierig ist, daß man sich solche Sorgen machen muß. Ich habe das alles nicht so ernst genommen.”

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Das ist das Ende dieser Ansage. Ein paar Tage später fragt Herr Kunze uns nach dem Essen, ob sich schon jemand denken könne, nach Hochfels zu gehen, für ein halbes Jahr. “Selbstverständlich müssen eure Eltern ja dazu sagen und das stützen. Es können gleichzeitig nur höchstens fünf gehen, drei wäre besser.” Ich melde mich, hatte die ganzen Tage schon gedacht, DAS ist eine Gelegenheit, neue Erfahrungen zu sammeln. Ich bin mit einigen Schwestern aufgewachsen und kann mir nicht denken, daß es für mich so schwierig sein könnte wie für einige Jungen, die als Einzelkinder gelebt haben.

Jemand fragt, ob das denn überhaupt ausreiche, wenn nur so wenige diese Erfahrungen machen würden. “Wahrscheinlich noch nicht, aber wir wollen einen Anfang machen. Vielleicht entwickelt sich daraus eine neue Form der Hinführung zum menschlichen Menschen, zum Menschen mit mehr guter Lebenserfahrung — auch in der Jugend. Für den Einzelnen wird es eine ganz große Erfahrung sein, er muß es an die Mitschüler weitergeben. Für die, die hier bleiben, wird es weniger sein, sie hören hinterher ja nur die Berichte, oder vielleicht — hoffentlich — erkennen sie auch, daß der Junge, der bei den Mädchen war, anders geworden ist, vielleicht reifer. Wir möchten gerne, daß er bewußt eine neue und schönere Art im Umgang mit den Mitmenschen ausbildet,” — und er betonte das “bewußt” — “denn so einfach unbewußt lernen ist sinnlos, ich möchte gerne, daß die Bewußtheit immer größer wird bei allen!”

Ein paar Tage danach soll ich zu Herrn Kunze kommen, es sind noch zwei Jungen meines Alters da, und einer, der ist zwei Jahre älter als ich. “Für dich, Rudolf (das ist mein Name) möchte ich gerne, daß du noch ein halbes oder ganzes Jahr wartest. Du bist noch nicht so lange bei uns. Ich denke, du solltest erst hier noch mehr Wurzeln schlagen — obwohl ich sehe, daß deine Wurzel schon recht weit in die Tiefe und die Breite reichen. Und ich möchte auch, daß du noch ein wenig älter bist, also vielleicht in einem halben Jahr, hm? Dennoch, wenn du willst, bleib´ hier sitzen während wir anderen das alles besprechen.”

Ich war erstmal enttäuscht. Doch alles, was Herr Kunze sagt, hat für mich volle Geltung. Gerne bleibe ich noch sitzen und höre zu, wenn auch etwas traurig.

Zwei von den anderen stammen wie ich aus kinderreichen Familien, einer hat lediglich eine viel ältere Schwester. Alle drei haben keinen Vater mehr, der Krieg hat sie vernichtet. Mein Vater ist heil zurück gekommen und hat eine gute Position in der neuen Wirtschaft. Er ist in der Lage, gelegentlich an die Schule zu spenden, Geld und Nahrungsmittel. Daher kommt der Pudding, den wir so oft essen — und ein Spitzname, den mir die anderen gegeben haben: Pudding.

“Ihr habt euch viel vorgenommen. Es wird ein tiefer Wandel in eurem Leben sein. Hinterher werdet ihr nicht mehr so wie vorher sein. Doch das ist allemal gut in eurem Alter. In Hochfels gibt es keine Männer als Lehrer und nur einen Mann als lehrender Handwerker. Alles werdet ihr von Frauen bekommen und lernen, nur der Schlosser, der die Schlosser-Gilde leitet, ist der einzige Mann dort. Laßt euch aber nicht verwöhnen — so wie Hahn im Korb. Dazu neigen Männer sehr leicht. Seid kein Hahn im Korb (er lacht).

 “Und damit das nicht passiert, und damit die Erfahrungen des Frau-Seins in eure Leben einsteigen, sollt ihr so weit es geht, Mädchen sein, euch ganz hineinfallen lassen. Nicht nur spielen sondern ganz SEIN! Ihr sollt euch kleiden wie Mädchen, sollt Interessen wie Mädchen haben, Freuden, Lüste und Schmerzen haben wie Mädchen, dem Schulplan der Mädchen folgen, euch schminken und schmücken wie Mädchen, sollt auch erfahren, wie es Mädchen in diesem Land ergehen kann, auch Häßliches werde ihr erleben. Ihr sollt aber NICHT solche Spiele machen wie Ritterlichkeit üben, den-Frauen-helfen oder so. Das gilt hier nicht, das wäre angelerntes männliches Verhalten. Wenn ihr aber frauliches Verhalten lernen und übernehmen könnt in dieser Zeit, tut es, auch wenn es angelerntes Verhalten ist. Da ihr es durchschaut, könnt ihr es hinterher leicht wieder abwerfen — oder in Überzeugung in euer Leben einbauen. Es muß nicht zu eurer Lebenspflicht werden, doch ihr habt es einmal erfahren, gelebt, und es bleibt und bestimmt euer Leben ein Stück.

“Habt dort keinen besonderen Kontakt mit den anderen Jungen von hier. Jeder von euch wird Mädchen unter Mädchen sein, mehr nicht. Zwar hat jeder Mensch im tiefsten Teil seiner Seele eine Art kleinen Beobachter, will ich mal sagen, der alles beobachtet, aber nicht wertet oder verurteilt; es wird einfach gespeichert in eurem Gehirn — das ist alles; und dieser Beobachter ist weder Junge noch Mädchen. Doch hier in Waldfels, und überhaupt, ich meine im normalen täglichen Leben, da seid ihr zuerst mal Jungen, auch ein wenig Mädchen, jeder Mensch ist so. Na ja, und auf Hochfels seid ihr Mädchen, ebenfalls nur außen.

“Insbesondere beobachtet euch selbst, wie ihr mit all den neuen Dingen umgeht. Wie eure Gedanken und eure Gefühle damit umgehen. Und wie gesagt: es gibt nichts zu werten oder zu beurteilen.

“Beobachtet auch, wie ihr selbst und die anderen auf Beleidigungen, Schmerzen und Ungerechtigkeiten reagiert, die euch als Mädchen angetan werden. Und seht, wie die Menschen sind, die euch als Mädchen schlecht behandeln, und was genau diese schlechten Taten gegen euch sind, was sie in euch selbst für Gefühle erzeugen. 

 “Fräulein Groth wird euch bei der Vorbereitung helfen. Sie ist noch fast so jung wie ihr und wird einiges besser verstehen als ich. Sie ist gelernte Schneiderin und kann euch besonders bei der Kleidung helfen. Sie wird euch mit allem Nötigen versorgen und euch für ein halbes Jahr ausrüsten. Sonst werdet ihr aber in Hochfels unterstützt und behandelt werden wie hier auch.

“Ich möchte euch nochmal bitten, das was ihr erlebt und seht, nicht zu werten sondern einfach so sein zu lassen. ES IST SO. Ihr seht wie wichtig mir gerade dies ist. Und wenn ihr Intimes erfahrt, gebt es nicht weiter — wie es hier auf Waldenfels ja auch ist. Brüstet euch nie in eurem Leben, daß ihr nun mehr wißt über Frauen, weil ihr dieses außergewöhnliche Erfahren hattet. Noch mehr als hier unter vielen Jungen werdet ihr bei den Mädchen erleben, daß jeder Mensch etwas ganz Eigenes und Besonderes ist. Die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen sind viel geringer als zwischen einzelnen Menschen ansich. Die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen, die wir gewöhnlich sehen, haben viel mit der Kleidung zu tun, die nun gerade mal in dieser Zeit so ist, und mit gelerntem Verhalten, was auch in anderen Zeiten anders ist.

“Denn das meiste, was ihr erstmal als typisch mädchenhaft seht, ist in Wirklichkeit von unserer derzeitigen Kultur und Mode und Technik und der heutigen Gesellschaft so gemacht. Es handelt sich um Muster, wie die Psychologen sagen, also Muster oder eine Idee, wie ein Junge, wie ein Mädchen, eine Frau, ein Mann zu sein hat. In wenigen Jahrzehnten werden diese Muster anders sein, aber ohne solche Muster werden wir Menschen wohl nie sein. In eurem Leben werdet ihr gewiß noch zwei oder drei verschiedene solche Muster erleben.

“Ich könnte fast sagen: ihr werdet da Mädchen-Muster antreffen, mit denen ihr zusammenlebt. Doch das ist nun weit übertrieben, denn der andere Mensch wird unter diesen Mustern immer sichtbar, müht euch, den eigentlichen Menschen zu sehen! Er ist es wert, gesehen zu werden. Die Muster sind sehr an der Oberfläche und nicht so wert, gesehen zu werden.

“Der tiefere Sinn dieser Erfahrung ist: werdet euch klar darüber, daß das alles nur solche Muster sind, nichts Wirkliches. Man kann sich kaum daran festhalten, es ist nichts Verlässliches. Nachher werdet ihr also nie mehr sagen, Mädchen sind so ..., Frauen sind so ...”

Was Herr Kunze sagt — er spricht langsam und mit langen Pausen, und er hört sich an, wie wir darüber denken und fühlen, das Gespräch dauert eine ganze Stunde oder so —, was er uns sagt, bekommen wir auf ein Stück Papier geschrieben mit zum Nachlesen. Ich lege das Blatt in mein Tagebuch, und wie seine Ansprache hier steht, steht es auf diesem Blatt. Nach einem halben Jahr lädt er mich wieder zu so einer Besprechung mit zwei anderen Jungen ein, und nun bekomme ich die lange ersehnte Erlaubnis, im kommenden Mai (1949) für ein halbes Jahr nach Hochfels zu gehen. Während der Vorbereitungen bin ich ganz erregt und zittere manchmal.

Nun muß ich noch schnell erklären, was in unseren Schulen eine Gilde und was ein Stamm ist. In der Gilde ist ein Schüler ein paar Monate und lernt etwas aus einem Handwerk oder einer besonderen Sportart oder Kunst — neben der normalen Unterrichtszeit, meistens an drei Tagen der Woche nachmittags zwei oder drei Stunden. In einem Stamm leben Schüler aller Altersgruppen zusammen, essen zusammen, wandern zusammen und tun sonst allerlei zusammen. Ein Stammesvater — ein Lehrer oder anderer Mann aus der Schule — leitet den Stamm, zu ihm gehen wir zuerst, wenn wir ein Problem haben.

Nun mein erster Gang zu Fräulein Groth. Sie hat eine Zweizimmerwohnung in der Burg, wo sie auch eine Nähmaschine stehen hat, auf der sie unsere Sachen repariert. Oft bekommt sie Hilfe von Schülern, die bei ihr etwas schneidern lernen. Mein kleiner Freundeskreis in Waldfels, links ich:

Wir drei Freunde im Schloß Waldfels, links ich


Ich weiß, was Mädchen so anhaben, an meinen Schwestern sehe ich es. Beinlange Strümpfe trage auch ich oft, wie die meisten Jungen bis 14. Und jetzt habe ich also meine langen Strümpfe und den Strumpfhaltergürtel wieder mal angezogen. Sonst habe ich nichts passendes. Doch Fräulein Groth lacht nur und meint, diese groben Baumwollstrümpfe und diese grauen Strumpfhalter seien nichts für dieses Mädchen-Internat. Da ginge es feiner zu. Für Jungen, die im Gestrüpp rum kriechen, sei das in Ordnung, aber als Mädchen sollte ich das mal nicht tun.

“Ich werde dir mal zeigen, was dir passen könnte, und du suchst aus, was du mitnehmen willst. Nach deiner Hochfels-Zeit bring´ es zurück. Was fehlt können wir noch kaufen.” Und sie legt ein paar Kleider und Röcke auf den großen Tisch, den sie sonst zum Schneidern benutzt. Und Mädchen-Unterwäsche in feinen Stoffen und Rosa, Höschen, Hemden, Unterröcke, Mieder und Strumpfhaltergürtel und Strümpfe. Das soll ich tragen? Erschreckt sehe ich sie an. “Einen Büstenhalter brauchst du ja nicht, noch nicht,” sagt sie lachend, “doch ein kleines Mieder solltest du anziehen, das gehört sich dort so auch für kleinere Mädchen. Jedenfalls verlangen sie es so in Hochfels — ist ein vornehmes Schloß, kann ich dir sagen.”

 “Ich schlage vor, du ziehst mal was davon an, hier, ich gehe solange spazieren.” Die Strümpfe sind aus feiner hellgrauer Baumwolle, andere in weiß und hellbraun. Ich ziehe mich aus und binde mir zuerst den Strumpfhaltergürtel um den Bauch und knüpfe ihn mit ein paar Häkchen zu, die daran sind. An dem Gürtel baumeln zwei Paar Strumpfhalter-Bänder, Gummilitze mit Knopflöchern in regelmäßigen Abständen. Ich merke, schon fängt das Erlebnis an, schon bin ich ein wenig auf der anderen Seite. Ein Paar feine hellgraue Strümpfe streife ich über die Beine, so sorgfältig, wie ich es bei meiner Mutter oft gesehen habe, sie haben oben zwei weiße Knöpfe, an die ich die Strumpfhalter festmache. Die Strümpfe sind zwar lang, aber das oberste Handbreit der Schenkel bleibt dennoch nackt.

Also, das ist perfekt, sage ich mir. Ein passendes Unterhöschen finde ich nicht, also nehme ich einen von diesen feinen flatterigen rosa Seiden-Schlüpfern mir einer gehäkelten Spitze unten, na ja, also was das mit mir und meinem Weg nach Hochfels zu tun hat, weiß ich auch nicht, schöne Maskerade. Aber ich will mal weitermachen, ob das recht so ist, erkenne ich noch nicht. Einen Rock finde ich schnell, einen schönen, bunt karierten Faltenrock, der erinnert mich an einen Schotten-Kilt, das ist ein wenig männlicher. Ein Miederchen und eine weiße Bluse finde ich noch, und nun bin ich erstmal fertig, der erste Versuch.

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Es klopft, und Fräulein Groth kommt wieder. Ich trete ihr in diesem schönen, bunten Rock entgegen, leicht verschämt. — “Sieh dich mal in dem Spiegel an, ob du wohl schon mädchenhaft aussiehst?” “Eher wie einer dieser schottischen Soldaten, die in unserer Garnison liegen,” sage ich. “Geh mal umher, wie fühlt sich das an?” Ich gehe und bemerke das Eigenartige, wenn nichts zwischen den beiden Oberschenkeln ist und sie sich berühren. Das ist das Eigenartigste, fast wie nackt-Sein. Und wie diese feinen Strümpfe aneinander reiben und es ein wenig zischt, wenn sie sich begegnen. “Geh mal auf den Flur, geh mal in den Garten oder wohin du willst, und erlebe mal diese Kleidung.” Es wird luftig zwischen den Beinen, trotz der Strümpfe. Muß mir das unheimlich sein, muß ich das zulassen? Oder macht das Spaß?

Ich begegne anderen Jungen, und einer fragt mich, ob ich denn was darunter anhätte — so ja, das wäre also das erste Zu-nahe-Treten. Wie fühlt sich das an. Er kommt und will meinen Rock hochheben — das wäre schon das zweite. Ich halte den Rock fest und er stößt mich an eine Wand, ich stütze mich da ab und schnell ergreift er den Rockrand — ich schlage ihn auf die Hand und er schreit, “so darf ein Mädchen aber nicht sein.” Das war´s also, gleich fünf Beleidigungen in ein paar Sekunden. Habe ich das auch schon gemacht, oder habe ich mich gefreut, wenn andere Jungen so waren? Ja, genossen habe ich das schon und gefeixt. Und nun eine andere Beobachtung: einerseits finde ich sein Verhalten gemein, andererseits genieße ich auch etwas dieses Risiko, daß Jungen so mit mir Rockträgerin umgehen könnten, daß der Rock ein großes Risiko bringt — eben weil er nicht sicher verschließt wie eine Hose.

Zurück bei Fräulein Groth frage ich sie, was ist eigentlich Schreckliches daran, wenn Jungen so sind, schließlich habe ich ja diesen Rock freiwillig angezogen, wollte ich das selbst tun, und außerdem weiß doch sowieso jeder, was darunter ist. Warum gucken sie dennoch und warum ist das eine Beleidigung für mich. Sie ist voller Verständnis: “Nun bist du schon ein wenig wie ein Mädchen, hast schon Mädchengefühle. So schnell geht das, nur einen Rock anziehen. Und vielleicht ist das so eine uralte Regel, daß Mädchen sich so kleiden, und daß ihnen von den Jungen unter die Röcke geguckt wird — ich weiß nicht. Sag mal, was alles wollt ihr Mädchen denn verbergen? — doch auch die oberen Strumpfränder und die Halter, oder?, besonders die glänzenden Drahtklemmen. Diese schönen Klemmen werden wir noch besorgen. Und dennoch habt ihr einen Genuß daran, das alles anzuziehen und wenn die Jungen mal etwas zu sehen bekommen und ihnen der Penis davon steif wird, oder was ist das? Frag dich mal, wenn du in Hochfels lebst.

“Rocktragen ist nun mal so. Etwas ziemlich anderes als Hosen-Tragen.”

Mich damit abzufinden, daß ich Junge — als Mädchen verkleidet — einen anderen Jungen so schnell erregen kann, wird lange dauern. Doch es zeigt mir schon jetzt: es ist die Mädchen-Kleidung, die das macht, nicht ich. Ich denke, sie könnte auch einfach an der Wand hängen und das würde´s auch schon bringen — oder doch nicht? Doch ich selbst will ja die Erlebnisse als Mädchen haben. Und dies gehört dazu, denke ich.

Au ja, nun geht´s schon an´s Eingemachte, wie man so sagt. Nun hebt auch Fräulein Groth meinen Rock hoch und will sehen, ob ich alles richtig gemacht habe. Und da geht bei mir der Penis hoch und ich drehe mich verlegen um. “Ja dieses kleine rosa Höschen ist wohl recht, aber lange Strümpfe mußt du so anziehen, daß hinten die Naht genau korrekt in der Mitte ist. Da müßt ihr Mädchen euch gegenseitig helfen, erst die Strümpfe richten, dann festmachen. Und die grauen Strümpfe passen zuwar zu dem roten Schottenrock, aber du müsstest noch kräftige Sportsocken dazu anziehen.”

Fräulein Groth rafft ihren langen dunkelblauen Rock hoch und zeigt mir, wie sie´s macht. “Und das Höschen muß immer über den Strumpfhaltern sein, denn sonst bekommst du Probleme auf dem Klo.” Ihre beigen Perlonstrümpfe sind recht kurz, denke ich, kaum über die Mitte der Schenkel reichen sie. “Muß ich auch so kurze Strümpfe tragen?” — “das kannst du zwar selbst entscheiden, aber ganz lange Perlonstrümpfe gibt es selten, nur sehr junge Mädchen tragen sie. Je älter ein Mädchen ist, desto länger das Kleid und kürzer die Strümpfe. Wirst du noch alles lernen, ist einfach die Sitte.”

Ich frage: “Muß ich auch so ein flatteriges Höschen tragen? Wenn mein Penis immer wieder steif wird, sehen das alle.” Sie sagt, “mußt du, aber darunter kannst du ein festes Höschen, einen Slip tragen und den Penis nach oben tragen, das geht dann meistens.” Ein paar Wochen lang ziehe ich also diese zwei Höschen übereinander an, dann wird mir das zu viel, und ist mir auch nicht mehr wichtig, und dann später, nach drei Wochen in Hochfels, trage ich nur noch die flatterigen Mädchen-Höschen.

Ich suche mir dies und das aus, besonders ein leichtes grau-blaues Mantelkleid gefällt mir, das über die Knie geht und an dem viele blaue Knöpfe von oben bis unten sind, man kann es ganz aufknöpfen und wie einen Mantel anziehen. Ich bin damit aber verlegen und frage Fräulein Groth, ob das nicht zu weit ginge, ob dieses Kleid nicht zu mädchenhaft ist. “Nimm es mit, irgendwann willst du es vielleicht mal versuchen, solange laß es im Schrank hängen. In Hochfels sind die Kleiderschränke groß, größer als hier. Wir Frauen haben immer so viel Spaß an vielen Kleidern.” Ich suche mir eher Röcke aus als Kleider. Fräulein Groth gibt mir noch zwei Kleider mit und wiederholt, “irgendwann willst du sie vielleicht auch mal versuchen.”

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Schon zwei Wochen vor der Abreise trage ich oft, fast täglich, meine Röcke oder Kleider, am Ende auch im Unterricht. Doch vor der Abreise müssen wir noch zusammen in die Stadt fahren um einiges einzukaufen. Die beiden anderen Jungen sollen auch mitkommen. Ich merke, wir sind alle drei Jungen aus kinderreichen Familien, wir haben kaum Scheu vor so einem Unternehmen — weniger jedenfalls als die Einzelkinder denke ich. Franz sagt, “ich zittere vor Erregung bei dem allen. Zittern Mädchen auch so?” “Nicht so sehr” sagt Fräulein Groth, “aber oft genug schon, wenn sie zum Beispiel das erste Mal Perlonstrümpfe und richtige Strumpfhaltergürtel anprobieren oder den ersten richtigen Büstenhalter.” “Ist es, weil diese Kleidung so offen ist oder was?” frage ich. So gehen die Gespräche im Zug hin und her, und die anderen Fahrgäste müssen ganz verwundert sein, was da bei den Mädchen so vorgeht.

Ja wirklich, diese Art Kleidung ist so offen, viel mehr als Jungens-Sachen. Außer dem Rock oder Kleid und den Strümpfen soll ja alles "Unterwäsche" sein und darf eigentlich von anderen nicht gesehen werden. Ich bekomme da reichlich Scheu. Und dann noch einfach ein Kleid, das unten offen ist, und das der Wind so leicht hochblasen kann. Oft sehe ich ja Mädchen, die ihren Rock festhalten, damit das nicht passiert. Soll ich das auch?

Zuerst gehen wir in ein Geschäft, wo es Kleider, Röcke und Blusen für Kinder bis 18 gibt und kaufen noch ein paar Stücke ein. Uns Jungen — ich sollte eigentlich schon Mädchen schreiben, ja? — ist es eigentlich egal, was wir bekommen, doch Fräulein Groth ist sehr sorgfältig mit der Auswahl, und es dauert sehr lange. Und alles ist mindestens knielang, “ihr seid nun keine kleinen Mädchen sondern schon etwas Frauen, da dürfen die Röcke nicht mehr so kurz sein.”

Dann müssen wir noch weitere Strümpfe kaufen: lange Perlons und bunt geringelte Söckchen, die wir manchmal noch darüber ziehen können. Die Perlons mögen wir nicht, sie sind uns zu kurz, doch Fräulein Groth besteht darauf, daß sie nicht den ganzen Oberschenkel bedecken sollen. Nur um Erfahrung zu sammeln, bekommt jeder ein ganz langes Paar dazu (der Fußteil ist dann etwas zu lang). Und damit die Strümpfe straff auf dem Bein bleiben und wir gepflegt aussehen, bekommt jeder zwei rosa (!) Strumpfhaltergürtel mit weißen Spitzen daran und mit elastischen Haltern, die am Ende diese silbern glänzenden Drahtklemmen haben. Und die Ersatzteile dazu, das sind besonders die Knöpfe, die oben ein Stück Strumpf einklemmen, indem sie in die Drahtschlaufe gedrückt werden und die sich so leicht verlieren, ich habe später gesehen, daß sie in Hochfels überall rumliegen — verloren —, und überhaupt Nähzeug.

Wir sollen uns umziehen: die Perlons und die neuen Strumpfhalter, denn Knöpfe sind natürlich nicht an den Perlons. Wir knöpfen die Halter an die Strumpfhaltergürtel und stellen sie an die Länge der Strümpfe ein. Wie ich das mache und sorgfältig die Strümpfe anziehe, beginne ich wieder erregt zu zittern und mein Penis wird ganz steif, ich weiß auch nicht warum und weiß mir kaum zu helfen. Aus der Umziehkabine mag ich erst nicht nach draußen gehen, denn mein Kleid beult sich vorne und jeder könnte sehen, was mit mir los ist, bin sehr verlegen.

Während meines Gangs zu den Mädchen lerne ich deren Techniken kennen: 
Zu Beginn: der echte Strumpfhaltergürtel und die Strümpfe, 
rechts: so klemmen wir die Strümpfe an den Strumpfhalter.



Peter, der dritte ist nicht zufrieden: “Hinten ist der Strumpf aber sehr weit nach unten gerutscht, fast am Knie. Können wir nicht noch einen dritten Strumpfhalter haben?” Also werden für jeden noch zwei Paar dazu gekauft, doch da keine weiteren Knöpfe an den Gürteln sind, können wir sie erst zuhause anbringen.

Fräulein Groth kauft für jeden etwa zehn Paar Strümpfe und sagt, “ihr müsst immer ein oder zwei Paar in Reserve dabei haben, denn sie gehen so leicht kaput, und eine Laufmasche im Strumpf sieht sehr ungepflegt aus.”

“Es gibt aber nicht immer Umziehkabinen, wo sollen wir uns dann die heilen Strümpfe anziehen?” “Oft geht das auf dem Klo, oder im Zimmer eines Mädchens, das ihr bittet. Frauen und Mädchen haben viel Einfühlungsvermögen und Aufmerksamkeit für einander, wenn es mal eine Panne gibt,” sagt Fräulein Groth. “Und wenn mal meine kleine Laufmasche läuft und ihr euch nicht umziehen könnt: ein Tropfen Nagellack hilft. Der gehört immer ins Handtäschchen. ”

Und dann gibt es noch Baumwollstrümpfe, die angenehmer zu tragen sind, in hellbraun, ein Paar in weiß. Ein Handtäschchen für jede, Mädchen-Taschentücher und noch manches andere wie Lippenstift, ein seidenes Halstuch, Nagellack und Nagellackentferner ... Irgendwie kommt mir manches davon affig vor, aber Fräulein Groth sagt, “das gehört einfach zur Grundausrüstung von Mädchen in Hochfels, es sind doch alles Leute aus feineren Häusern. Ihr werdet es jetzt nicht brauchen, aber dort werdet ihr froh sein, ausgerüstet zu sein und nicht wie Anfängerinnen für jede Kleinigkeit in die Stadt eilen zu müssen.”

Nachher kaufen wir uns ein Eis und bringen Fräulein Groth auch eines mit und setzen uns auf eine Parkbank gegenüber der großen Kirche. Sie erzählt uns noch etwas über das Tragen von Röcken: “wenn ihr euch hinsetzt, müsst ihr erst mit beiden Händen den Rock hinten glatt streifen und runterziehen, damit er nicht faltig wird. Und im Sitzen sollte er die Knie bedecken oder wenigstens die Schenkel bis an die Knie ran. Und elegante Mädchen schlagen die Beine nicht übereinander sondern stellen sie dicht nebeneinander.” Das ist alles sehr viel, und ich hoffe, daß ich nicht die Lust und Geduld verliere. “Du machst es einfach so wie die anderen Mädchen auch.”

Am Ende der Bank sitze ich und nach einiger Zeit wird mein Bein oben kalt. Wie ich mit der Hand hinfühle merke ich, daß das Kleid da hoch gerutscht ist. Ich lasse das so, weil es Spaß macht, beobachte dann aber, wie einige Jungen und Mädchen herüber gucken und lachen. Nun erst merke ich, daß der Strumpfhalter und ein Stück Strumpf nicht vom Kleid bedeckt und offen sichtbar sind — ich weiß, daß es mir auch Spaß macht, so etwas bei anderen zu sehen. Aber nun werde ich verlegen und rot und versuche das Kleid zurechtzuziehen. Ich muß aufstehen und das ganze Hinsetzen noch einmal üben.

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Bevor wir nach Hochfels abreisen, treffen wir drei uns noch mit Herrn Kunze. Er sagt noch dies und das, aber besonders, “laßt alles los, was bisher für euch galt und fangt neu an. Seht wie die Mädchen mit ihrem Leben umgehen und was sie denken und fühlen, und fragt sie. Geht mit eurer Erfahrung so tief hinein wie es euch möglich ist — und noch etwas tiefer. Denkt nicht, ich kann nicht mehr, das ist alles zu viel. Also: rennt nicht fort oder flieht in die Hosen — sondern bleibt das halbe Jahr in Hochfels und macht voll mit. Wenn ihr mal verreist, bleibt weiterhin Mädchen, auch in der Kleidung. Wenn es euch mal zu viel wird, zieht einen Mantel oder Anorak an, zieht die Kapuze über den Kopf und lauft in den Wald oder an den See. Doch zieht nie Hosen an — außer wenn es alle tun, zum Reiten zum Beispiel oder bei Wanderfahrten. Ich gebe hier jeder von euch ein dickes Tagebuch mit, schreibt so viel rein wie ihr wollt, niemand soll das Buch zu lesen bekommen, auch später nicht. Schreibt besonders von euren Gefühlen hinein.” Aus diesem Tagebuch habe ich diese Geschichte zusammengestellt — also, nach so vielen Jahren dürft ihr sie nun doch lesen.

“In Hochfels sollt ihr Waldfelser nicht miteinander hocken, ihr drei werdet nicht in derselben Klasse oder im selben Stamm sein. Ihr sollt euch nicht mehr unterstützen als es alle mal tun, also nicht weil ihr euch kennt oder die einzigen Jungen dort seid. Und ihr sollt nicht zusammen hinreisen sondern jede einzeln. Dort werdet ihr am Bahnhof von ein paar Schülerinnen abgeholt.”

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Am nächsten Tag steige ich mit meinem Koffer in den kleinen Triebwagen zur Stadt. Fräulein Groth begleitet mich noch bis an den Zug nach Hochfels, in den ich im Stadtbahnhof umsteige. Oh nein, ist das eigenartig, nun bin ich ganz allein als Mädchen unterwegs und den Gefährdungen des Lebens fast wehrlos ausgesetzt. Ich merke es sofort, wie ich in den Zug nach Hochfels einsteigen will: es weht viel Wind auf dem offenen und kahlen Bahnsteig (die Dächer und Gebäude waren im Krieg durch Bomben zerstört und noch nicht wieder erneuert) und ich weiß nicht wie ich den hohen Perron in den Waggon hinaufsteigen kann ohne daß der Rock mir um die Ohren fliegt. Es sind noch viele Leute da, die einsteigen wollen. Ich warte um zu sehen, wie andere Mädchen das tun, aber irgendwie kann es jede: schmeißt das Gepäck vorweg und hält den Rock mit einer Hand und das Geländer mit der anderen fest. Da ich besonders aufmerksam hinsehe, bemerke ich auch, wie bei anderen das eine oder andere Mal ein Stück Unterwäsche zu sehen ist, doch es scheint die Mädchen nicht zu kümmern — also sollte es mich auch nicht kümmern.


Beim Einstieg in die Bahn über den Perron,
der Wind weht uns oft den den Rock hoch

Ich sitze im Zug, eine halbe Stunde Fahrt noch bis Hochfels, bin voller Spannung, Erregung, auch etwas Angst. Sitze am Fenster und gegenüber sitzt eine Frau, die liest. Beim Aus-dem-Fenster-Sehen geschieht es, daß ich nicht mehr wachsam bin und meine Beine übereinanderschlage. Die Frau sieht auf und lächelt. Sie sagt, “ich mag es, wenn Mädchen so frei sind und sich nicht immer an ihren Rock festklammern. Doch wenn ein Junge gegenüber sitzt, solltest du das nicht tun, er könnte zu gierig werden.” “Wieso gierig?” frage ich verlegen. “Ja weißt du, ich als Frau werde ja nicht gierig, freue mich nur, wie da unter deinem grauen Reise-Rock ein strahlender weißer Unterrock mit Spitzen hervor sieht, und was für ein hübsches rosa Höschen mit eleganten Rüschen du anhast — und es ist einfach süß, wenn ein hübsches Mädchen so was trägt, so lange Strümpfe und Strumpfhalter trägt — alles so gepflegt. — Doch Jungen wollen immer mehr, sie ziehen dich im Geiste aus und wollen dich nackt sehen und denken, du lädst sie mit deiner Aufmachung ein, und daß du dich mit Absicht  so hinsetzt, damit sie deine Unterwäsche sehen können. Das lockt sie ganz stark, erregt ihre Gefühle. Zum mindesten macht es ihnen Spaß, frech zu sein und eine Schwäche bei dir auszunutzen.”

“Wieso Schwäche?” frage ich. “Das weißt du doch, du fühlst dich doch verletzbar.”

Ihr könnt euch vorstellen, daß mir das zu denken gibt. Bin froh, daß unter dem rosa Höschen noch ein fester Slip ist, damit die Leute nicht erkennen, daß ich ein Junge bin. — Es ist auch beruhigend, daß sie nichts merkt.

Ich finde es aber schon eigenartig, daß Mädchen sich so anziehen, daß so leicht das Höschen zu sehen ist, was eigentlich unsichtbar sein soll, und um das sie sich schämen sollen. Es muß ja nicht sein, aber sie tun´s alle.

·


Ankunft in Hochfels
Ich komme an der Bahn-Haltestelle von Hochfels an, und zwei Schülerinnen warten auf mich um mich abzuholen. “Komm, wir setzen uns erstmal auf die Bank da, um uns kennen zu lernen,” und mit fröhlich wippenden Röcken gehen sie voraus. Sehe ich auch so aus? frage ich mich, kann ich auch so mit dem Rock wippen? Ihre eleganten Strümpfe sind ganz gerade mit der Naht, das sehe ich und gucke nach hinten wie es mit meinen ist nach der Reiserei. Ich frage, “sind meine Strümpfe in Ordnung?” “Nein, wir wollen sie mal zurecht ziehen, komm wir gehen mal in dem Obstgarten da in eine Ecke.” Zwischen Obstbüschen mache ich die Strümpfe los und hinter mir hockend ziehen die beiden sie zurecht bis die Naht wieder ganz gerade ist, dann knöpfe ich sie wieder fest. “So, nun ist die volle Eleganz wieder hergestellt. Wie heißt du eigentlich?” Ich sage “Rollia”, so wie wir in Waldfels meinen zweiten Spitznamen Rolli in eine weiblich klingende Form umgewandelt haben. Den Namen hatte noch keine gehört, und ich sage, “ich auch nicht, er ist neu, von uns neu erfunden.” “Ja, dein Name ist schön, fast süß.”

Mein Koffer wird von Katrin und Martina auf einen Karren geladen und wir ziehen ihn in den Wald und den Berg hoch. Bei einer Pause fragen die beiden, “wie bist du denn sonst so angezogen, ist alles in Ordnung? So das erste Mal? Hast du einen richtigen Damen-Strumpfhaltergürtel an? Ist er elegant und nicht so grau jungenhaft? Und weißt du, hier in Hochfels muß jede einen Büstenhalter oder wenn sie klein sind wenigstens ein Miederchen tragen, hast du so was?” Und solche Fragen ... Die eine zieht etwas an meinem Kleiderrock und möchte mal drunter sehen. Verlegen lasse ich sie, dabei werde ich etwas steif, mein Penis auch schon wieder. “Das ist aber süß,” “Nein, DER ist aber süß” sagen sie schnatternd. “Ich möchte ihn mal ganz sehen, darf ich mal dein Höschen runterziehen?” Ich weiß nicht, was ich sagen soll und streife einfach meinen Rock wieder runter, und wir gehen weiter. “Wir haben uns schnell gemeldet um dich abzuholen. Gleich werden wir einen geheimen Seitenweg gehen und an eine Lichtung im Wald kommen. Da warten noch ein paar andere Mädchen auf dich, und wir wollen einen kleinen Empfang feiern. Du wirst schon sehen, es sind interessante Mädchen. Wir gehören alle zum selben Stamm.”

Ich weiß nicht, was Mädchen so alles zu sagen haben, den ganzen Weg schnattern sie. Ob ich auch mal so werde?

Die Waldlichtung, ein Feuerchen brennt da, und wohl zehn Mädchen sitzen drum herum, die nun aufstehen. Sie begrüßen mich erstmal und wir setzen uns um´s Feuer. Wir sind verlegen und schweigsam und warten. Es ist alles so neu. Die größte kommt zu mir — “ich heiße Marianne” — und sagt, ich solle mich bei ihnen wohl fühlen, und bei jeder Neuen würden sie so eine Feier feiern, um sie einzuführen. Und “es wird etwas anders sein als sonst, denn du sollst keine Scheu vor uns haben, und wir nicht vor dir.” Wieder Schweigen, ein paar summen und andere fallen ein. Das Summen wird lauter, eine bringt am Feuer einen Tannenzweig zum Glimmen und geht rum, um jede daran riechen zu lassen. Dann streuen sie ein paar getrocknete Blätter auf die Glut des Zweiges, sie sind in einer Papiertüte mitgebracht, und lassen wieder alle daran riechen. Rauch steigt von dem glimmenden Zweig auf, und die Waldlichtung füllt sich mit diesem Duft. Er ist sehr stark und sehr angenehm. Gespannt sehen alle umher und warten, wie es weiter gehen wird.

Da haben sie einen Kreis mit Kiefernzapfen und anderen Waldsachen gelegt, in den soll ich mich nun stellen. Ich sehe, daß einige Zelte unter den Bäumen stehen. Die Mädchen stellen sich im Kreis um mich auf. Sie sind sehr ernst und immer noch verlegen.

Es sind kleinere und größere Mädchen da. Marianne beginnt und sagt, “wir feiern jetzt deine Ankunft und führen dich gleich in unser Mädchen-Leben ein. Wir bitten dich, mach mit und öffne dich ganz für uns. Vielleicht ist das hier auf der Lichtung sehr eigenartig und fremd für dich, aber laß dich bitte darauf ein. Für uns alle ist das auch neu, so in dieser Art. Wir denken, dieses ist die beste und reinste Art, dich in unsere Runde aufzunehmen ohne daß du Angst vor uns bekommst. Es sollen nur wenige Geheimnisse zwischen dir und uns bleiben, ein paar wird es immer geben. Es soll die beste Art sein, wie du zum Mädchen wirst.”

Die Mädchen singen ein kurzes Lied, ich kenne es nicht und höre zu, wie ihre Stimmen anders sind als Jungenstimmen, sind sie zarter? In dem Lied kommt etwas wie “wir laden alle ein, die gerne zu uns kommen” und “sei eine von uns, es wird dir wohl ergeh´n”. Eine kommt und streicht mir seitlich über den Leib und küsst mich schließlich. Ach sind das Sitten, ein wenig unheimlich ist das ja wirklich.

Und nun singen sie ein Lied mit Stimmen, die kratzig und herbe klingen sollen, was nicht alle können. Es ist ein Lied von Edith Piaf, die meine Mutter so gerne hört. Es erinnert mich an schöne Abende zuhause, wenn die Piaf von den Schallplatten sang, und ich werde ein wenig wehmütig und empfindsam.

Wie alles so weit ist und wir noch im Kreis stehen, beginnen sie langsam ihre Röcke hoch zu ziehen, und ich bekomme ihre Schlüpfer und die Strümpfe und Halter zusehen. Mir wird kalt und heiß und ich werde wohl schon wieder ganz rot. Sie sagen, ich soll mich umdrehen und alle ansehen, “denn nun mußt du dich daran gewöhnen, Mädchen unter Mädchen zu sein. Das darf nun nichts Fremdes mehr für dich sein. So muß das auch bei dir sein.” Sie sind ganz verschieden gekleidet, die zwei größeren haben wadenlange Röcke und tatsächlich die kürzeren Strümpfe und die längeren Halter an, die sich über den halben Oberschenkel spannen. Ihre Strümpfe gehen kaum höher als zwei Hand breit über das Knie. Die Halter sind dann an einen breiten weißen Hüftgürtel befestigt, der noch ein Stück des Oberschenkels bedeckt, jedenfalls rechts und links. Ich bin ganz aufmerksam und sehe so viel auf einmal. Ich denke, das muß ich doch — obwohl es mir recht peinlich ist.

Eine sagt, “Nun mußt du dich aber auch zeigen.” Ich weiß nicht, ob das recht ist, aber so sind diese Mädchen wohl, denke ich. Ich ziehe auch meinen Rock hoch, und mein Penis ist schon wieder ganz steif und beult alle Unterwäsche nach vorne. Wie sie das sehen, rufen einige “das muß nun anders werden, nun sollst du doch Mädchen sein.”

 “Halte deinen Rock schön hoch und sieh dich um, sieh uns alle an und, welche magst du am liebsten? Bei welcher von uns möchtest du diese Nacht im Zelt liegen?”

Es geht alles so schnell. So hatte ich es nicht erwartet, nicht mal in meinen Träumen — na ja, eigentlich habe ich noch nie von Mädchen geträumt. Mutig sehe ich sie alle an, ihre Gesichter, ihre Kleidung und wie sie sich geben. Ein kleines, vielleicht zehn Jahre altes Mädchen suche ich mir aus und traue mich, es ihr zu sagen. Ihre Strümpfe reichen hoch bis an den Leib und lassen nur wenig Schenkel sehen. Sie zögert, doch dann läßt sie den Rock fallen, kommt strahlend auf mich zu, nimmt mich an die Hand und leitet mich zu einem kleinen Zelt — “das ist ganz allein mein Zelt.”

Die anderen kümmern sich um das Feuer und holen schnell einen Topf und Geschirr herbei, eine Suppe haben sie vorbereitet, die sie nun warm machen. Die kleine Helga geht mit mir wieder raus ans Feuer und wir setzen uns zu den anderen. Sie sagt, “sieh mal, alle sitzen so, daß wir unter ihre Kleider sehen können, tu das auch. Es gehört sich so bei einem solchen Einweihungsfest für Neue. Alle sind gleich, du auch.”

Helga sagt, “nun will ich dich mal allein für mich haben. Immerhin hast du mich ausgesucht, oder?” Sie sieht so süß aus, besonders im Gesicht. Ihre erd-braunen Strümpfe sind tatsächlich noch länger als die Beine und sind oben zusammengeschoben, Helga hat sie umgekrempelt und noch Knöpfe weiter unten angenäht, ihre Schenkel sind nur hinten sichtbar, wenn sie aufsteht. Wir beide bekommen zusammen eine Schale mit der Obstsuppe und einen Löffel. Die Suppe schmeckt fruchtig und süß. Helga nimmt etwas an ihre Finger und streicht mir das an meine Lippen zum Ablecken. Ich möchte mich hinlegen und etwas schlafen. Helga geht mit mir zu ihrem Zelt, und wir legen uns auf eine rot-gelbe Decke. Sie legt sich ganz dicht an mich und macht ganz hohe Töne, weil es so schön ist. Ich habe lange nicht mehr mit einem Menschen so dicht zusammen gelegen, und voller Seligkeit schlafe ich ein, während Helga meinen Schlaf bewacht, wie sie hinterher sagt. Das hat sie in einem Buch gelesen.

Später wache ich auf, es ist noch hell. Ich sehe Helga lange ins Gesicht und frage sie, wo sie das her hat, daß sie sich einfach so mit einem größeren Jungen ins Zelt legt. “Ja, ich habe einen Zwillingsbruder — er ist auch in eurer Schule —, und wir haben so oft zusammen im Bett gelegen, auch geschmust, meistens, von Geburt an sozusagen.

“Wenn Ferien sind, machen wir das zuhause immer noch. Und zu unserer Mutter sind wir auch immer ins Bett gekrochen. Als du mich ausgewählt hast, zögerte ich zuerst, doch als ich sah, daß du noch ein Kind bist, dachte ich an meinen Bruder, und da ... Ich bin bald 13 Jahre und noch sehr klein und jung. Das magst du doch, oder?” “Ja, ich habe etwas Angst vor den größeren Mädchen. Und da bist du mir lieber. Ich sehe dich an und mag dich sehr.” Was sie so erzählt, will ich noch besser verstehen und frage,

“was meinst du mit ‘wir haben geschmust´?” “Ach, nicht nur geküßt, sondern wir haben einander den ganzen Körper gestreichelt und erlebt, wie schön der ist, und wie schön sich das anfühlt. Mein Bruder ist schon recht groß, und ich liebe ihn und mag alles an ihm, wie er ist. Genauso wie du zieht er auch gerne Mädchensachen an, und einmal, als er das lange nicht mehr getan hatte und Neues von unserer Mutti bekam, hat er es angezogen und vor Freude und Rührung geweint, so hat er sich gefreut. Er hatte ein weites buntes Kleid an und weiße Strümpfe mit einem weißen Strumpfhaltergürtel um den Leib geknöpft — mit kleinen Spitzen dran. Er sah wunderbar darin aus, vor ein paar Wochen, in den letzten Ferien.”

“Ja” sage ich, “als ich neulich das erste Mal bei unserer Schneiderin Mädchensachen angezogen habe, habe ich auch geweint vor Glück, verstehst du das?”

“Nicht so richtig, denn solche Sachen sind doch was ganz normales. — Also eigentlich sind sie in dieser Zeit doch nicht so normal. Nur in dieser Zeit mit dem vielen Nachkriegselend, da sehnen sich Leute nach so was, ich muß mal überlegen woher das kommt. Wenn ich daran denke, wie die Flüchtlinge aus dem Osten ankamen, häßlich, verschmutzt, zerrissene Kleider, viele Mädchen und Frauen trugen häßliche ausgebeulte Hosen ... da haben wir hier schon was ganz Besonderes. Unsere hellen, fröhlichen und zarten Mädchensachen. Das ist schöner als eure Jungensachen, die meistens so düster aussehen. Und du kannst mit Röcken und Kleidern rumwedeln, beim Tanzen fliegen sie umher wie Blütenblätter, ja das macht mir Spaß. Die bunten Farben und das Wedeln. Du wirst es schon noch erleben.”

“Und dein Vater, wie findet er das? Hat er auch Freude an diesen Kleidern?” “Der lebt schon lange nicht mehr, ist als Soldat im Krieg gestorben, gefallen sagt man ja.” “Vielleicht hätte er das auch gemocht?” Helga weint ein bißchen und seufzt, “sein Bruder ist oft bei uns, ich glaube Mutti und er mögen sich, oder lieben sich, ich weiß nicht. Doch sie wollen nicht heiraten, denn wir Kinder sollen immer die Verbindung zu unserem Vater behalten, und wenn ein anderer Mann da ist, sagt sie, dann geht das vielleicht nicht mehr.” “Und wie findet der das?”

“Dieser Onkel Oskar, weißt du, er ist schon eigenartig, würden die meisten Leute heute denken. Wenn es geht, auch wenn er bei uns ist, dann zieht auch er oft Röcke an, so lange weiße oder helle karierte Wickelröcke, hatte er mal im Orient gelernt, wo er früher viel war. Doch für draußen zieht er ganz ordentlich Hosen an und weiße gestärkte und gebügelte Hemden und Schlips und all das. Also, eigenartig ist er schon, er liebt es, solche Röcke zu tragen, und Mutti mag das an ihm auch.”

Nun will ich von mir erzählen: “Mein Vater hat den ganzen Krieg als Soldat überlebt, und er hat auch keine Verwundung am Körper. Er ist auch bald zurückgekommen, war nur kurz in Gefangenschaft. Aber seelisch ist er ganz schön abgewirtschaftet. Er sagt, er habe fast jede Nacht Alpträume und wacht schreiend auf und muß erstmal eine Zigarette rauchen, bis er sich wieder ins Bett legt, aber schlafen kann er dann meist nicht mehr. Meine Mutter und er haben deswegen eigene Zimmer. Tagsüber arbeitet er im Büro einer Fabrik und verdient viel Geld. Ich glaube nicht, daß er etwas mit Röcken für Männer im Sinn hat, aber was ich hier mache, findet er als Experiment gut, hat er mir geschrieben und viel Erfolg gewünscht — wie diese Leute so sind: Erfolg, aber von Freude ist keine Rede.”

Eine Zeit lang liegen wir nur so im Zelt und hören wie die Brummer an die Außenwand fliegen und kleine Zweige von den Bäumen fallen. Ich sage weiter: “Doch meine Mutti und die Schwestern finden das gut, sie schreiben, du hast viel Mut, dich an Erfahrungen ranzumachen, wovor eigentlich alle Angst haben. Ich glaube, diesen Männern, die so Schreckliches im Krieg erlebt und getan haben, denen täte es sehr gut, wenn sie mal so leben würden wie wir jetzt gerade, so leicht und weiblich.” Helga ist nachdenklich, sie wedelt mit einer Hand rum und sagt schließlich, “du, sie wissen das, sonst würden sie sich nicht so anstrengen, daß wir diese Schule besuchen können, doch für sich selbst, glauben sie, ist es zu spät.”

Zum Schluß finde ich, “hier habe ich ein sehr warmes Gefühl mit dir, es ist so schön, mit dir zusammen zu sein. Wir können doch Freunde bleiben, auch wenn die Schule für mich anfängt und wir uns nicht so oft sehen?”

“Wir beide sind im selben Stamm und in derselben Klasse,” sagt sie. Das bedeutet, daß wir uns bei jedem Essen sehen und vielleicht zusammen sitzen können. “Unsere Stammes-Mutter ist eine ganz klasse Frau, noch nicht so alt, vielleicht 25. Sie hat auch viel Spaß daran, Frau zu sein. Sie spielt auch mit ihren Röcken und Kleidern und bunten Tüchern wie wir alle. Fräulein Mansfeld heißt die. Sie hat sogar ein paar Seidentücher mit bunten Vögeln drauf, und Blumen und Blättern. Diese Tücher seien aus Indonesien sagt sie, eine alte Frau hat ihr die mal geschenkt, weil sie nicht mehr sowas buntes tragen wollte — ist doch auch schade, was?”


das Schloß Hochfels

Am nächsten Morgen lerne ich Fräulein Mansfeld kennen, doch zuerst diese Burg, jedenfalls von außen. Nachdem wir ganz früh auf der Lichtung alles zusammengeräumt haben, gehen wir zur Schule, zum Internat — mein Koffer liegt noch immer auf dem kleinen Wägelchen. Die Burg Hochfels, in der das Internat ist, hat Zinnen und einen eleganten Turm und ein paar Wasserspeier, die fast wie die Drachen an anderen Burgen aussehen. Das Dach ist grün, die Wände grau und die Fenster weiß, ganz normal, denke ich. Wir gehen über eine Brücke — früher war hier vielleicht mal eine Zugbrücke, ach ja, da sind noch Reste der Zugkette an der Wand, die Löcher meine ich.

Hier haben sie auch so etwas wie unseren Rittersaal, wo alle essen, das Frühstück besteht aus einem Porridge, das ist ein englischer Haferbrei, und warmer Milch, Honig steht auf dem Tisch. “Du bist also die Neue. Unsere Heimleiterin, Frau Grabow, hat mir schon Bescheid gesagt, daß du in unseren Stamm kommst. Wie heißt du?” “Rollia” sage ich, “ein neu erfundener Name.” “Willkommen bei uns, Rollia! Die Mädchen aus unserem Stamm haben dich gestern abgeholt und ein Willkomm-Fest gefeiert, haben sie mir erzählt. Da habe ich mich sehr gefreut. Sie haben es gerne getan, eigentlich war es ihre Erfindung, das so zu machen, sie haben mich vorher gefragt, und ich habe ihnen noch mit der Besorgung der Suppe und so geholfen. Ich heiße Fräulein Mansfeld, und wir Lehrerinnen lassen uns immer mit Frau oder Fräulein und Name anreden. Das wirst du noch alles lernen, doch in Waldfels wird es nicht anders sein.

“Und hier bei uns bist du ganz Mädchen, wie wir alle. Das ist dein ganz besonderer Entschluß, und für uns alle ist es was Besonderes, daß du mit dieser Idee zu uns gekommen bist. Wir wollen dir alle helfen, für diese Zeit deine Jungen-Vergangenheit etwas zurück zu lassen und an unserem Leben teilzunehmen. Ich werde dir nachher dein Zimmerchen zeigen, und deine Dusche. Aber du bist frei, selbst zu sehen und zu entscheiden, was du willst — außer daß du mit uns als Mädchen ein halbes Jahr leben willst. Das hast du ja schon entschieden. Wenn du Schwierigkeiten hast, frage ein anderes Mädchen deines Vertrauens oder mich oder Frau Grabow.”

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Der erste Schultag hier. Die Klassenräume sind wie in Waldfels, Zweierbänke mit Zweiertisch. Wußte morgens nicht, was ich anziehen könnte. Regel ist ja Perlons und Rock oder Kleid. Auch ziehen wir ab der vierten oder fünften Klasse (also etwa ab 12) Damenschuhe an, schmal und mit etwas erhöhtem Absatz. Das ist schon etwas schwierig für mich in solchen Schuhen, wahrscheinlich für alle jüngeren Mädchen hier. Es ist eben eine recht vornehme Schule mit dem Ziel, die Schülerinnen zum eleganten Benehmen in der oberen Gesellschaft heranzuziehen. Doch außerhalb des Unterrichts kann ich meine normalen flachen Schuhe anziehen, die sind auch nicht so empfindlich, wenn man raus geht. Und natürlich ziehe ich die Perlons schnell aus — wie die meisten Mädchen — und trage dann Baumwollstrümpfe. Am liebsten würde ich mit nackten Beinen gehen, doch das sollen wir nicht.

Ich habe also einen leichten mittelgrünen Rock gewählt und eine dunkelgrüne Bluse mit einem weißen gerüschten Kragen und halblangen Ärmeln, die auch weiße Rüschen haben. Das passt etwa zu dem, was die anderen tragen. Auf der Bank sitze ich nun und neben mir ein Mädchen mit langen schwarzen Zöpfen und roten Schleifen in den Zöpfen. Sie heißt Lisa. “Rollia,” sagt Lisa, “ich finde es toll, daß du zu uns gekommen bist. Wenn du Fragen hast, kannst du zu mir kommen. Hast du kein Halskettchen, das würde noch zu deiner Bluse stehen.”

Ich frage Lisa gleich, “können andere Menschen wirklich nicht sehen, daß ich ein Junge bin?” Es macht mir Sorgen, wenn ich von Fremden verspottet würde: ein Junge in Mädchenkleidern. “Ich glaube nicht. Auch ist dein Gesicht nicht gerade männlich, braucht es doch auch nicht, so jung wie du bist.” Ich frage sie, “warum habe ich diese Angst? Hättest Du andersherum auch solche Angst?” “Nein, denn es wäre nichts besonderes, Jungensachen anzuziehen.” “Ich verstehe dieses Gefühl bei mir nicht. Sind wir so erzogen worden? Hat es etwas damit zu tun, daß Mädchen und Frauen als minderwertig angesehen werden? — und Männer sich darüber erheben müssen?”

“Was ist das denn, minderwertig?” fragt Helga entrüstet, “manchmal sagen die Leute ihren Söhnen, sei vorsichtig mit den Frauen, die wollen immer alles. Vielleicht ist es die Angst, daß Frauen alles tun, damit ihnen die Männer gehorchen, damit sie ihnen verfallen, auch mit ihrer Kleidung versuchen sie es — so denken die Leute. Bestimmt gibt es auch solche Frauen, aber solche Männer auch.”

So ist die Lisa, kann immer alles erklären. Sie zieht ihr Kleid etwas hoch, so daß ich ihre Strumpfhalter sehen kann und fragt, “erregt dich das?” “Nein” sage ich, “es ist wohl schön anzusehen, aber ich trage das doch auch, brauche nur meinen Rock hoch zu ziehen und meine eigenen Beine ansehen. Trug das schon immer unter den kurzen Hosen.” Dann sieht sie mir lange gerade und still in die Augen und fragt wieder, “erregt dich das?” “Ja”, sage ich, “das ist ganz stark, und ich möchte dich berühren.” “Siehst du, so ist das. DAS sind die Waffen der Frau, wie die Leute so sagen.”

“Es sind schöne Waffen,” sage ich.

Wie wir abends mit unserem Stamm zusammensitzen — Lisa ist in einem anderen Stamm und nicht dabei —, erzähle ich von diesem Gespräch und frage Fräulein Mansfeld, was denn die Waffen der Frau seien. “Waffen möchte ich nicht sagen, denn das klingt mir zu sehr nach Kampf und Krieg. Davon haben wir jetzt mehr als genug gehabt. Doch wie du in Lisa´s Augen gesehen hast, haben wir Frauen etwas, was die Männer wach macht und anzieht, das geht dir auch schon so. Das sind noch viel mehr Dinge als nur die Augen. Die Natur hat uns Frauen so gemacht, daß wir den Männern etwas Besonderes zu zeigen und zu geben haben — na ja umgekehrt natürlich auch. Da ist immer der Unterschied zwischen beiden. Ohne solche Unterschiede wäre das Leben doch sehr langweilig. Wir sollten es richtig finden, daß ich die anderen nie ganz verstehen kann, daß sie nie ganz so sind wie ich es mir wünsche.”

“Warum sollen sich Menschen nie ganz verstehen?”

“Ich meine, wir sollten es richtig finden, weil es einfach so ist und nicht geändert werden kann. Sonst wird das Leben zu schwierig.”

“Das mit Lisa´s Strumpfhaltern verstehe ich nicht,” sagt ein Mädchen, “wieso fragt sie Rollia so was? Was ist da besonders dran?”

Fräulein Mansfeld geht darauf ein: “Wir haben gelernt — oder ihr seid noch dabei, das zu lernen —, daß manche Sachen nur von Frauen und Mädchen getragen werden, und da denkt ein Junge, oh ist das weiblich. Er denkt, ich darf so was nie tragen und will das auch nie. Sonst denken die Leute, ich bin ein Mädchen, und das wäre nicht recht. Sogar denkt er: da muß ich mich schämen. Dazu gehören Röcke und auch die Strumpfhalter. Damit zeigen die Frauen den Männern: hier ist eine Frau, hier ist ein besonderer Mensch, der dich treffen will. Und du bist NICHT eine Frau — du bist ein Mann.

“Doch in anderen Ländern ist das etwas anders, da haben die Frauen andere Zeichen. Wie Menschen sich kleiden, ist nicht natürlich, das hat sich eine Kultur selbst ausgedacht: Frauen müssen das eine tragen, Männer das andere. Und das wechselt ja ständig. Sieh mal in Geschichtsbücher, wie unterschiedlich Frauen und Männer in all den Jahrhunderten gekleidet waren, oder in verschiedenen Ländern. Es ist ein Spiel, ein schönes Spiel. Leider wird es oft so schrecklich ernst genommen. Nur eines zieht sich durch wie ein roter Faden: Frauen tragen fast immer und überall  Röcke oder Kleider — doch auch das nicht in allen Zeiten oder Kulturen. Und Männer? Mal tragen sie Hosen, mal Röcke. Noch heute tragen Pastoren lange Kleider, wenn sie dem Gottesdienst vorstehen. Auch der Papst übrigens. — Huch, war das eine lange Rede.”

Ist das alles schwierig, hätte ich nicht gedacht, ich sage, “dann bin ich also so erzogen, daß diese Kleidung hier nur für Frauen sein soll, und ich als ein Junge das nie, nie, nie tragen darf, ist das so? Ich kann mich nicht  erinnern, daß die zuhause mir das gesagt haben. Und daß ich als Junge nie mädchenhaft sein darf.”

“Das geht schon sehr früh los im Leben, und gesagt wird das nicht, wir sehen es einfach und nehmen das sehr ernst — unbewußt!”

Ich sage noch, “wie die meisten Jungen habe ich aber auch lange Strümpfe und all das getragen, eigentlich alle Jungen bei uns, alle sagten aber auch, das ist Mädchenzeug, und dennoch. Immer schon hatte ich das Gefühl, wie ein Mädchen angezogen zu sein, doch ICH mochte das. Das ist alles etwas durcheinander für mich. Denn ich bin ja doch ein Junge, das geht doch nicht anders.”

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Die kleine Helga hat mich die ganze Zeit angesehen und findet, daß Mädchen sich gerne schmücken und Schönes anziehen. “Ich sagte doch: wie die Kriegs-Flüchtlinge aus dem Osten ankamen, waren sie so traurig und hatten häßliche Kleidung, verschmutzt, zerrissen.”

Marianne fährt fort: “Aber nachdem sie sich hier erst mal so eingerichtet hatten, war das erste, was die Frauen taten: sie besorgten sich bunte Kleider und Schmuck und alles, was schön ist. Haben Blumen auf die Tische gestellt. Und die Frauen hier haben ihnen dabei geholfen und ihnen von ihren schönen Dingen abgegeben, auch haben sie begonnen, Parfüms selbst zu machen. Frauen stehen einander in solchen Dingen immer bei.”

Im Tagesprogramm in Hochfels ist mehr Zeit für die Mädchen gelassen, um sich zu pflegen, als für uns Jungen in Waldfels. Das sage ich und finde Lachen und ein paar witzige Bemerkungen. “Ja, so muß das sein,” sagt Fräulein Mansfeld und lacht mit den anderen. “Wir haben das so gemacht, weil Mädchen wirklich viel mehr Zeit brauchen. Wir werden nicht etwa schöner dadurch — wir sind schon schön! —, sondern es gehört zu unserem besonderen Spaß, uns im Spiegel zu besehen und zu schminken und zu schmücken. In den Waschräumen hier sind auch mehr Spiegel angebracht als in Waldfels. Mädchen kleiden sich so, weil sie Spaß daran haben — nicht etwa um anderen zu gefallen, wie manche Männer denken.”

Helga protestiert: “also Jungen sind auch schön, Rollia besonders!”

Federike, die schon etwas älter ist, sieht mich von oben bis unten an und hilft mir mit dem noch unreifen Entschluß, auch für mich mehr zu tun: “du siehst noch nicht so schön aus, wie du könntest! Darf ich dir mal zeigen, wie wir uns schminken? — wie wir eine Halskette oder ein Tuch um den Hals legen? — wie ich mit Genuß meine Strümpfe und Schuhe aussuche und anziehe? Das geht nicht einfach so, sondern der Spiegel hilft uns, ich glaube, er hilft uns, daß der Schmuck und ich eins werden, miteinander verschmelzen — oder so ähnlich. Ich und mein Körper und alles drum herum sollen doch zusammen gehören, oder? Das ist jedenfalls mein Ziel.”

Ich besuche Federike mal in ihrem Zimmer und sehe: sie hat da einen langen Spiegel stehen, in dem ich meinen ganzen Körper gespiegelt sehe. Sie stellt sich vor den Spiegel und zieht ihr Kleid etwas hoch und betrachtet ihre Beine — “sind das nicht schöne Beine, Du? — und wenn ich das Kleid noch etwas höher ziehe, dann sehe ich so aus wie das Bild in Bärbel´s Zimmer.” Mir scheint, ich muß mir das Bild von Bärbel mal ansehen, irgendwann mal.

Und sie hat den Spiegel gegenüber dem Bett aufgestellt, so kann sie sich ansehen, wie sie sich an- und auszieht. Sie zeigt mir ihre Schmuck-Schatulle und will mir ein paar Ohrringe anhängen. Doch “du hast ja gar keine Löcher in den Ohrläppchen! Das müssen wir mal nachholen. Wir fahren irgendwann mal in die Stadt und lassen die Löcher rein machen.”

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Diese Idee erschreckt mich sehr, denn damit wäre ich ja für immer zum Mädchen gestempelt: OHRLÖCHER? Das will ich nicht — doch ein paar Wochen später will ich, und Federike und ich fahren los.

Erst kommt sie noch zu mir und will etwas zum Anziehen für mich aussuchen, aus dem Schrank. Sie hält das leichte grau-blaue Mantelkleid hoch, das mir bisher zu mädchenhaft war. “Das ist doch besonders schön, das steht dir ganz klasse, du mußt aber den Gürtel weglassen, oder nur lose umhängen. In diesem Kleid bist du richtig Mädchen, willst du das?” Das Kleid öffnet sich leicht vorne, und wenn ich mich hinsetze muß ich aufpassen, daß die Strumpfhalter nicht rausgucken, immer wieder ziehe ich es runter. Es ist mir auch ein Genuß dabei, das Kleid flattert und lässt viel Frische an die Haut, doch ich fühle mich scheu und verlegen damit.

Und dennoch: Mädchen-Sein hat etwas Besonderes an sich, etwas Leichtes, ich fühle mich so offen, und das ist ein Genuß. Nicht alle Jungen mögen das glaube ich, doch ich bin ich . . .

 Wie wir in das Schmuckgeschäft gehen, wo das gemacht wird, zittere ich überall — vor Erregung oder vor Angst, ich weiß es nicht. Es ist so endgültig. Kann ich danach nie mehr richtig Junge sein? Es ist wie eine Operation. Und dann suchen Federike und ich noch zwei Paar Ohrringe aus, die mir stehen — wie sie sagt. Immer noch zitternd gehen wir raus. Dieser Weg durch die Stadt — das ist mehr als damals das erste Mal im Rock, das mit dem Rock war noch Verkleiden, doch nun, es ist wie endgültige Geschlechtsumwandlung: diese Löcher und dieses Kleid. Will ich das? Doch nun ist es geschehen.

Aber es ist auch so, daß ich zu den Ohrlöchern nicht ganz nein sage, es ist auch ein ja dabei. Eben, ein Stück Mädchen in mir, in meinen Tiefen, sage ich heute, Jahre später.

Anschließend schleppt sie mich noch zum Frisör, ich sitze auf dem Stuhl, er ist hoch und meine Beine baumeln frei. Ich sehe meine Knie in den feinen grauen Strümpfen an und freue mich über sie, ich habe schöne Knie. Wie die Friseuse mal draußen ist, ziehe ich mein Kleid etwas hoch und mache den Strumpf wieder fest, der sich vom Strumpfhalter gelöst hatte. Dabei bin ich wieder scheu und sehe umher, ob auch niemand zuguckt. Das ist noch alles so neu und ungewohnt — und dann die Ohrringe.

Die Friseuse kommt wieder herein. Wir überlegen, wie meine Frisur fraulicher wird: eigentlich sind meine Haare zu kurz dafür, aber die Friseuse meint, damit ließe sich schon was machen, so kurz seien sie ja auch nicht, “warum hast du sie dir denn so schneiden lassen? Nun habe ich die Schwierigkeiten . . . . , aber es wird schon gehen. In den zwanziger Jahren haben die Frauen viel kurze Frisuren getragen, so etwas werden wir jetzt daraus machen. Ich zeige dir mal ein paar Fotos von damals, und du suchst dir was aus, ja?”.

Und wir finden etwas, was zu mir passt und aus den kurzen Haaren hergerichtet werden kann. Federike kommt herein und schreit auf vor Verwunderung, wie sie sagt, “bist du schön geworden, das hätte ich nie gedacht, in so kurzer Zeit.” Sie gibt der Friseuse das Geld und legt noch ein gutes Trinkgeld dazu — vor Begeisterung.

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Also: lange vor dem Spiegel stehen. Nur für dieses ‘Fest vor dem Spiegel´, wie Petra sagt, gehe ich morgens oft in einen Waschraum der Mädchen und sitze mit den anderen ebenfalls lange vor einem Spiegel (eine lange Reihe von Wandspiegeln mit Frisiertischchen und Hocker davor ist gegenüber der Reihe der Waschbecken) — dabei lerne ich, was nötig ist, um ‘schön´ zu sein . . .  oder ich lerne einfach nur, vor dem Spiegel zu stehen und mein schönes Gesicht anzusehen und zu bewundern, ein wenig mit Schminke zu malen, oder ein Tuch um den Hals, um den Kopf zu winden und zu erleben, was das macht. Denn schön sind unsere jungen Gesichter ja sowieso. Die anderen zeigen mir alles, und es gibt viel Spaß und Lachen. Meine neue Frisur will auch gepflegt sein, und das alles kostet schon eine halbe Stunde jeden Morgen, bei anderen länger. Manchen Mädchen reicht die Zeit nicht und sie stehen früher auf.

Nur montags und donnerstags morgens darf ich in diesen Waschraum. Daneben ist ein Raum für die Duschen und einer für die Klos — die sind für mich natürlich verboten, das ist der Mädchen eigenes Reich. Neben meinem Zimmerchen habe ich ja mein Bad mit Dusche.

Ich will nicht sagen, daß ich sonst als Junge herbe und grob bin, doch hier bin ich schon feiner, aufmerksamer, sorgfältiger. Irgendwas geschieht, je länger ich bei Mädchen lebe. Sie sind anders als Jungen — doch wie sagte ich neulich zu Helga: Sind wir so erzogen worden? Werden Jungen zu Gröberem erzogen, oder wie geht das?

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 “Mädchen haben Angst vor Spinnen, stimmt das?” frage ich mal wie wir alle beim Essen sitzen. Fräulein Mansfeld sieht umher und wartet, daß eine was dazu sagt. Katrin meint, “ihr spinnt!” und alle lachen über dieses Wortspiel. “Also das habe ich nicht mit Absicht so gesagt, aber spinnen tut ihr doch.” Marianne hat die Burg schon bis in alle Ecken durchforscht, mit einer Taschenlampe, und hat dabei Tausende von Spinnen gesehen. “Das hat mir nun nichts gemacht. Doch was sagt ihr dazu, daß wir hier mit tausenden von Spinnen zusammen leben?” “Mich graust es schon davor,” sagt Helga. Und auch ich ekele mich vor so vielen Beinen und rechne, “tausend Spinnen bedeuten achttausend Spinnenbeine. Und wieviele Tausende von Kilometern von Spinnenfäden hängen hier herum? — alte und neue?” “Lichtjahre Kilometer!” “Nun, haben Mädchen nun Angst vor Spinnen?” fragt Fräulein Mansfeld, “ich jedenfalls finde sie auch eklig — aber Angst? Wir wollen mal abstimmen. Wer hat nun Angst?” Außer Marianne heben alle die Hand, ich auch. Doch vielleicht habe ich mir das erst hier angewöhnt, vielleicht bilde ich mir das ein, um nicht aus dem Rahmen zu fallen.

Nachher ist unsere Tischrunde besonders gickerig, das macht das Spinnenthema. Nach dem Essen kommen noch andere Mädchen und wollen auch so fröhlich sein, und wir alle gickern und fragen weiter, “haben Mädchen Angst vor Spinnen?” “haben Mädchen Angst vor Spinnen?” “haben Mädchen Angst vor Spinnen?” “haben Mädchen Angst vor Spinnen?” und so geht es den ganzen Nachmittag. Doch eine klare Antwort finde ich nicht, vielleicht war das eine echte Jungen-Frage.

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Die Schlosser- und Schmiede-Gilde: Ein einziger Mann ist also hier in Hochfels: Herr Mihme, der Schlosser. Wie in Waldfels kann jede eine Gilde wählen. Gilde? das ist ein Handwerk, in dem wir drei mal in der Woche in Lehrwerkstätten arbeiten und lernen können — so etwas wie ein Praktikum, aber keine richtige Lehre. Und Herr Mihme leitet die Schlosser- und Schmiedewerkstatt. Er ist alt und süß, das sagen sie alle. Er geht sehr auf uns ein, zeigt uns viel, was zu seinem Handwerk dazu gehört. Ich will bei ihm arbeiten. Wie ich ihn zuerst von weitem sehe, denke ich, da ist auch eine Frau, denn bei der Arbeit trägt er meistens einen langen Lederrock über den Hosen.

Jede bekommt eine lange Lederschürze um, um die Kleidung vor Funken und Öl zu schützen. “Hier könnt ihr schmieden — mit Feuer und Amboß, das ist männliche Arbeit, voller Kraft und mit sprühenden Funken.” Wir gehen zum Amboß und er holt mit einer langen Zange ein Stück glühendes Eisen aus dem Feuer. Auf dem Amboß schlägt er es mit einem Hammer so lange zurecht, bis sich am einen Ende ein langer Haken bildet mit einer Öse am anderen Ende. “Das ist ein Feuerhaken, wie wir ihn im Ofen benutzen können. Wer will mal?”

“Und die andere Art, mit Eisen umzugehen ist die Schlosserei, das ist eher die Arbeit für die feineren, zarteren Hände, eher für Frauen. Hier geht es um Millimeter, auch um glänzende Oberflächen und einwandfreies Funktionieren der Schlösser. Eine Frau hat feinere Finger um die Glätte oder die Unebenheiten abzutasten.” Am anderen Ende der Werkstatt steht eine lange Werkbank mit all den Werkzeugen der Schlosserhandwerks: Schraubstöcke, Feilen, kleine Hammer, Zollstock, Bohrmaschine, Drehbank — “alles klein für kleine Leute mit feinen Händen gemacht ...” sagt er. Oben an der hohen Decke ist eine lange Eisen-Achse mit  verschieden großen breiten Rädern angebracht, alles dreht sich, angetrieben vom summenden Elektromotor im Nachbarraum. Herr Mihme legt mit einer langen Gabel einen breiten Lederriemen über eines der Räder an der Decke und über ein Rad an der Bohrmaschine und treibt sie so an, “der Transmissionsriemen” sagt er.

Weil Herr Mihme meint, die Schlosserei sei eher für Frauen, beginne ich mit den Schlosserarbeiten — obwohl mich das Schmieden mehr interessiert. Doch das kann ich noch später anfangen. Eine Feile und einen faustgroßen, unförmigen Eisenklotz legt er mir hin und erklärt mir, wie ich diesen groben Klotz in einen Schraubstock einspannen und daraus einen Würfel herausfeilen kann. Das ist der Anfang meines Schlosserlebens, das sich noch durch die Jahre fortsetzen wird, doch das weiß ich jetzt noch nicht.

Ein paar Mädchen lassen sich das Schmieden zeigen, das ergibt nach einigen Tagen feine und schließlich verschlungene Feuerhaken — vielleicht zu fein für unsere Öfen — aber fein genug für diese schönen Mädchenhände. Ich bin ein wenig neidisch, denn ich denke, meine Hände sind doch ebenso fein und geschickt.  Später schmieden sie Kerzenhalter und anderes. Sogar Schmuck können sie bald herstellen, Broschen, und eine macht sogar kleine Anhänger für Ohrringe. Zum Abschied von Hochfels wird sie mir ein Paar schenken.

Ich aber mühe mich zwei lange Wochen mit dem Eisenklotz herum. So entsteht ein etwas schiefer Würfel, den ich am Ende fein poliere bis er glänzt. “Du hast viel Geduld, das ist gut für solche Sachen. Wenn du willst, kannst du noch ein Loch in die eine Spitze bohren und eine Schraube eindrehen, und später kannst du dir einen Holzklotz als Fuß für den Würfel machen und das Ganze als Erinnerung auf deinen Tisch stellen.” Ich sage, “nicht nur als Erinnerung sondern auch als Mahnung, Geduld zu haben.” Das gefällt Herrn Mihme.

Jeden Abend nach der Arbeit räumen wir die Werkstatt auf und reinigen sie. Gewiß: Herr Mihme macht das meiste, vielleicht will er nicht, daß wir uns dreckiger machen als es für “meine kleinen Mädchen” — wie er liebevoll sagt — angebracht ist. Einmal im Monat wird sie gewaschen, der Fußboden, das Werkzeug, die Maschinen  . . .  und so ist Herrn Mihme´s Werkstatt die sauberste und feinste Eisenwerkstatt, die ich in meinem langen Leben je gesehen habe — abgesehen von Feinmechaniker- und Uhrmacherwerkstätten.

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Die Näh- und Schneiderinnen-Gilde: “Das ist aber eine Schande,” ruft Katharina, “jetzt ist mir schon das dritte Mal der Strumpfhaltergürtel runter gerutscht, diese Haken sind wohl nicht mehr krumm genug, oder ich bin dünner geworden.” Sie meint die Haken, mit denen der um die Hüfte gelegte Gürtel zusammengeschlossen wird. “Das darf mir ja nicht in der Stadt passieren, daß plötzlich alles runter rutscht. Muß ich da einen neuen kaufen?” Bärbel rät ihr dazu, meint aber, “du kannst doch auch nähen und versuchen, neue Haken anzunähen.” Fräulein Päckelmann, die die Näh-Gilde leitet, meint, “Katharina, vielleicht isst du zu wenig und wirst tatsächlich dünner, hm?”

Und dann erzählt sie, wie es ihr mal als Schülerin gegangen ist: “ich bin in eine normale Stadtschule gegangen, und als ich so 14 war, ging mal mein Strumpfhaltergürtel in der Pause auf, ich wußte nicht, was für ein eigenartiges Gefühl das war an der Seite. Ich hielt gerade einen Haufen Bücher und wollte sie zur Klasse tragen, als das passierte. Dann merkte ich, der Gürtel rutschte, und mit ihm die ganze Unterwäsche, und die Strümpfe rutschten lose die Beine hinunter und schlugen dicke Falten an den Knien. Alles hatte sich gelöst. Ich war in Panik, und mit den Büchern in den Armen konnte ich nichts festhalten. Glücklicherweise stand da gerade ein Tisch in der Halle, auf den ich die Bücher absetzte. Immer noch wußte ich nicht, was ich machen sollte, etwa das Kleid hochheben und alles wieder in Ordnung bringen, vor allen Schülerinnen? Vor Verzweiflung fing ich an zu weinen, da kam eine Lehrerin vorbei, die das sah, was ist denn da passiert? und mich in einen Klassenraum schob, der gerade leer war. Sie kniete sich vor mir hin und — ich dachte ich müsste sterben — ließ mich das Kleid hochheben. Sie drehte mich um, und ich fühlte wie sie die Häkchen Stück für Stück wieder einhakte. Sie zog alles wieder hoch in die richtige Position. Erleichtert glättete ich mein Kleid und zog es wieder zurecht, doch rot im Gesicht wie ein Indianer blieb ich noch `ne halbe Stunde. — So kann es einem Mädchen oder einer Frau ergehen. Seid einfach sorgfältig mit eurer Kleidung und passt auf. Ganz sicher sind wir da nie, so etwas kann immer mal passieren.”

“Sind die Männer und Jungen da besser dran?” fragt eine. “Das mag schon sein, dennoch möchte ich nicht tauschen, diese düstere und harte Kleidung möchte ich nicht für mich,” meint Fräulein Päckelmann. „Dennoch: auch die Jungen ziehen dauernd an ihrer Hose rum, daß sie nicht rutscht. Und Hosenträger mögen sie alle nicht.“

Ja, viel wird genäht. Besonders Kleider nähen wir uns selbst, nicht alle, aber vielleicht ein Drittel der Kleider, die in den Schränken der Mädchen hängen, sind selbst gemacht. Auch Strümpfe machen wir uns manchmal selbst, wir nähen sie aus einer Stoffbahn, die Naht ist natürlich hinten. Unsere selbst gemachten Strümpfe sind meistens besonders originell, bunt und mit Mustern. Den Fuß kriegen wir meistens nicht so gut hin, und damit er nicht so sichtbar ist, ziehen wir Söckchen darüber. Manche machen sich zwei verschiedene Strümpfe, die sie auch so anziehen. Nur zum Unterricht müssen wir die üblichen Perlons anziehen, aber sonst  . . .  lange Strümpfe, die die Knie bedecken, sind immer ein Muß, aber dann haben wir alle Freiheiten: länger oder kürzer, alle Farben und Muster, die uns einfallen.

Zur Nähstube gehört auch eine kleine Bücher- und Zeitschriftensammlung. Fräulein Päckelmann hat da viele Mode-Journale gesammelt, auch sehr alte, aus denen wir Anregungen suchen. Ich könnte da Stunden über diesen Journalen sitzen, tue ich auch manchmal. Besonders Hüte und Mützen suchen wir daraus und machen sie nach. Einige Mädchen stricken auch Mützen, die sie aus den Heften abgucken, ganz elegante!

Einmal habe ich mir einen weißen Unterrock gemacht, an den ich unten eine Spitzenborte genäht habe, die Spitze hatte mir meine Mutti gehäkelt. “Nun wirst du aber richtig ein Mädchen,” hat sie geschrieben als sie mir die Spitze schickte. Wenn sie wüßte, WAS schon alles passiert ist. Vielleicht werde ich ihr später mal mein Tagebuch zeigen.

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Die lange Monika hatte sich mal eine dicke, braune Wolljacke gestrickt, und nun ist sie rausgewachsen. Ich bekomme sie geschenkt — mit der Bedingung, sie weiter zu geben, wenn ich mal rausgewachsen bin. Wie ich diese Jacke über mein Kleid ziehe, weil es draußen kalt ist, merke ich, daß die Nachmittags-Baumwoll-Strümpfe zu fein sind, passt alles nicht zusammen. In Stilfragen ist diese Schule groß — eben Mädchen-Schule. Was nun? Monika geht an ihren Wäscheschrank und holt ein paar braune, gestrickte Strümpfe heraus. “Die sind mir auch zu klein geworden, zieh sie mal an.” Oben sind zwei weiße Knöpfe an jedem Strumpf. “Hast du Lochgummi-Bänder? Die kannst du an deinen Strumpf-Gürtel knöpfen, und dann geht es. Für die üblichen Draht-Klammern sind sie zu dick, oder?”

Das wird für mich nun ein neues Mädchen-Fest, eine neue Mädchen-Erfahrung: nachmittags gehen wir raus, und da ziehe ich die Wollstrümpfe und die Wolljacke an — diese Strümpfe sind so lang, daß sie meine Beine bis oben hin bedecken, länger als diese Perlonstrümpfe vormittags zum Unterricht. Es wird schwierig, sie stramm zu befestigen, denn sie reichen ja fast bis an den Strumpfgürtel, und da ist nicht viel Platz übrig für die Dehnung der Lochgummi-Bänder, die ja die Strümpfe stramm halten sollen. Ab und zu muß ich sie wieder hochziehen. Dann können alle meine Unterwäsche sehen, aber meistens sehen sie weg.

So versuche ich, sportlich auszusehen: mein graues Wanderkleid und diese Wollsachen, dazu an den Füßen Schisocken und Wanderstiefel — garnicht dem Stil des Hauses entsprechend, aber ich mag das sehr, und die Kleine Helga sagt, “nun siehst du wirklich fast wie ein Junge aus. So mag ich dich auch!”


Die ganz eigerne Wanderkluft

Das wird nun meine `Wanderkluft´, und später zurück in Waldfels werde ich das weiter tragen, natürlich zur kurzen Hose. Wenn ich allein durch die Wälder wandere. Doch vielleicht auch im Rock wie auf dieser Zeichnung, warum nicht?

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Ein niedliches kleines Zimmer habe ich: ein Bett und ein Tisch, ein Stuhl, der Schrank auf dem Flur. Durch eine schmale Tür geht es in ein Bad mit Dusche, Klo und Waschbecken — wie ausgewachsene Menschen hier leben können, kann ich mir nicht vorstellen, es ist alles so klein. Wie gut, daß ICH so klein bin! Auf dem Tisch steht ein Bild: Da ist von hinten gesehen ein Mädchen im wehenden, weiten, bunten Kleid, das Kleid ist hellblau mit langen roten Streifen von oben nach unten, und unten hat es einen breiten roten Rand. Der Kragen ist auch rot und fließt weich um den Hals. Das Mädchen steht barfuß auf einem Berg und sieht hinunter in die Talebene unter Hochfels. Um den Kopf hat sie ein rotes Tuch, das vom Wind schon fast abgeweht ist. Später frage ich Bärbel, ob sie es hingestellt hat, denn sie hat es gemalt. “Ja, ich habe es dir hingestellt, du sollst dich doch immer erinnern, daß du hier bei Mädchen lebst. Und der Blick in die Ferne erinnert dich an deine Sehnsucht, weiter ins Leben hinaus zu laufen — oder so ähnlich. Du wirst schon selbst sehen. Ich sehe deine Sehnsucht in deinen Augen.”

Drei Tage nachdem ich hier angekommen bin, habe ich mich fertig eingerichtet, das ist nicht viel, aber Bücher und Schulsachen in ein Regal über dem Tisch anordnen und die Kleider und alles in den Schrank hängen und legen. Im Schrank finde ich ein kleines duftendes Säckchen. Es erinnert mich an meine Großmutter, die hat auf dem Waschbecken immer eine besondere Seife, die so duftet. “Deine Wäsche soll danach duften,” sagt mir Fräulein Mansfeld, die mir das Zimmer übergibt, “es sind Lavendelblüten, habe ich selbst im Schulgarten gezogen.”

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Fortsetzung hier: http://rudolf-bei-den-maedchen.blogspot.de/2012/07/des-jungen-gymnasiasten-rudolfs-mit-den.html  .

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